13.01.2021
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Die Lebensrealität von Flüchtlingen in Bosnien im Januar 2021. Foto: Alea Horst

Tausende Schutzsuchende sitzen unter katastrophalen Bedingungen in Bosnien fest. Es droht der Kältetod. Der Weg in die EU wird durch brachiale Gewalt blockiert. Anstatt die Menschen zu retten, zu evakuieren, reden EU und Bundesregierung von »Hilfe vor Ort«.

Im bos­ni­schen Lipa, kurz vor der kroa­ti­schen Gren­ze, brann­te am 23.12.2020 ein Lager für Schutz­su­chen­de ab und hin­ter­ließ ca. 1.200 Men­schen ohne Obdach. Zuvor hat­te die Inter­na­tio­nal Orga­ni­sa­ti­on for Migra­ti­on (IOM) das Manage­ment des Lagers ein­ge­stellt, da die bos­ni­schen Behör­den der For­de­rung, die tem­po­rä­re Unter­brin­gung win­ter­fest zu machen, nicht nachkamen.

Wochen­lang waren die Schutz­su­chen­den dort dem Win­ter in Bos­ni­en schutz­los aus­ge­lie­fert, noch immer sind nicht für alle Plät­ze in beheiz­ten Zel­ten vor­han­den. In ganz Bos­ni­en har­ren etwa 9.000 Schutz­su­chen­de aus. Ca. 5.600 Per­so­nen sind laut dem Euro­päi­schen Aus­wär­ti­gen Dienst (EEAS) in not­dürf­ti­gen Lagern unter­ge­bracht, wei­te­re 3.000 Per­so­nen leben im tiefs­ten Win­ter in Wald­ge­bie­ten oder auf der Stra­ße in der bos­ni­schen Haupt­stadt Sarajevo.

Die huma­ni­tä­re Not­la­ge ist eine Kata­stro­phe mit Ansa­ge. Weder die Obdach­lo­sig­keit noch die inad­äqua­ten Unter­brin­gungs­struk­tu­ren sind neu, jeden Win­ter spitzt sich die Situa­ti­on dra­ma­tisch zu.

Die huma­ni­tä­re Not­la­ge ist eine Kata­stro­phe mit Ansa­ge. Weder die Obdach­lo­sig­keit noch die inad­äqua­ten Unter­brin­gungs­struk­tu­ren sind neu, jeden Win­ter spitzt sich die Situa­ti­on dra­ma­tisch zu.

Das dröhnende Schweigen

Trotz der lebens­be­droh­li­chen Situa­ti­on ist es in der EU und in Deutsch­land ruhig, wenn es um die For­de­rung nach Eva­ku­ie­rung in die EU und die Auf­nah­me der betrof­fe­nen Men­schen geht.

Wäh­rend SPD-Politiker*innen ange­sichts der huma­ni­tä­ren Not­la­ge eine Auf­nah­me for­dern, schwei­gen Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer und Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel zu dem The­ma. Dabei haben zahl­rei­che Kom­mu­nen und Bun­des­län­der in der Ver­gan­gen­heit immer wie­der ihre Auf­nah­me­be­reit­schaft betont.

»Hilfe vor Ort« statt Aufnahmen in die EU 

Ver­tre­ter der EU-Kom­mis­si­on schie­ben die Ver­ant­wor­tung Bos­ni­en zu. Die EU-Kom­mis­si­on war schnell mit ihrer Zusa­ge, Bos­ni­en mit wei­te­ren 3,5 Mil­lio­nen Euro zu unterstützen.

Für die Bewäl­ti­gung der Not­la­ge in Bos­ni­en ist jedoch nicht feh­len­des Geld das Haupt­pro­blem. Wie IOM West­bal­kan Koor­di­na­tor, Peter van der Auwer­aert, klar­stellt, sind poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen der loka­len Behör­den aus­schlag­ge­bend. So war es trotz der finan­zi­el­len Unter­stüt­zung aus der EU nicht mög­lich, eine schnel­le Umsied­lung der obdach­los gewor­de­nen Men­schen zu realisieren.

»Hil­fe vor Ort« heißt über­setzt »bleibt wo ihr seid« – fest­ge­setzt vor und an den EU-Außengrenzen.

Der Aktio­nis­mus der Kom­mis­si­on deckt sich mit der poli­ti­schen Leit­li­nie Horst See­ho­fers. Ange­sichts des abge­brann­ten Lagers Moria sei »Hil­fe vor Ort das Aller­wich­tigs­te« so der Bun­des­in­nen­mi­nis­ter im Sep­tem­ber 2020. »Hil­fe vor Ort« heißt über­setzt »bleibt wo ihr seid« – fest­ge­setzt vor und an den EU-Außengrenzen.

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Geflüch­te­te Men­schen im pro­vi­so­ri­schen Camp Lipa in der Nähe der bos­nisch-kroa­ti­schen Gren­ze. Foto: Alea Horst

Letzter Ausweg »Balkanroute«

Selbst wenn alle Schutz­su­chen­den in Bos­ni­en in beheiz­ten Armee­zel­ten unter­ge­bracht sind, ist dies weder eine ange­mes­se­ne Unter­brin­gung, noch wer­den dadurch ihre Rech­te gewahrt. In Bos­ni­en gibt es kein funk­tio­nie­ren­des Asyl- und Auf­nah­me­sys­tem für Schutz­su­chen­de. Bos­ni­en ist für sie nicht das Ziel‑, son­dern ein Transitland.

Der Groß­teil der Schutz­su­chen­den in Bos­ni­en ist zuvor über Grie­chen­land in die EU ein­ge­reist. In den letz­ten Jah­ren sind dort die meis­ten Schutz­su­chen­den in der EU ange­kom­men. Durch mas­sen­haf­te, ille­ga­le Push­backs ging die Zahl der neu­an­kom­men­den Schutz­su­chen­den dras­tisch zurück auf 15.553 Per­so­nen im vom Coro­na-Virus gepräg­ten Jahr 2020 (2019: 74.613 Personen).

Schutz­su­chen­de in Grie­chen­land erwar­tet ein struk­tu­rell man­gel­haf­tes Auf­nah­me­sys­tem und ein Leben in Per­spek­tiv­lo­sig­keit. Für die Wei­ter­rei­se feh­len jedoch lega­le Wege. Die soge­nann­te »Bal­kan­rou­te« ist für die meis­ten die ein­zi­ge Mög­lich­keit zur Wei­ter­flucht. Seit den Flucht­be­we­gun­gen 2015/2016 und dem EU-Tür­kei-Deal wur­de die Rou­te jedoch sys­te­ma­tisch geschlos­sen und dadurch gefährlicher.

Der Rou­ten­ver­schie­bung zur bos­nisch-kroa­ti­schen Gren­ze ging unter ande­rem die her­me­ti­sche Abrie­ge­lung der unga­risch-ser­bi­schen Gren­ze vor­aus. Push­backs wur­den in Ungarn per Gesetz­än­de­run­gen lega­li­siert. Im Dezem­ber 2020 urteil­te der Euro­päi­sche Gerichts­hof, dass dies gel­ten­dem EU-Recht wider­spricht. Am 08. Janu­ar 2021 ver­öf­fent­lich­te unse­re Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on, das Unga­ri­sche Hel­sin­ki Komi­tee, einen aus­führ­li­chen Bericht zu den Push­backs, in dem auch die Rol­le von Fron­tex hin­ter­fragt wird. Obwohl die EU-Agen­tur in Ungarn im Ein­satz ist, ver­schließt sie die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen.

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Bos­ni­en: Pro­vi­so­ri­sche Behau­sun­gen von Geflüch­te­ten im tiefs­ten Win­ter. Foto: Alea Horst

Schutzsuchende in Bosnien sind Pushback-Opfer Kroatiens 

Seit 2018 kommt es an der bos­nisch-kroa­ti­schen Gren­ze zu extre­mer Poli­zei­ge­walt gegen Schutz­su­chen­de. Push­backs, also die ille­ga­le Zurück­wei­sung von Schutz­su­chen­den, wer­den von kroa­ti­schen Grenz­be­hör­den mit äußers­ter Bru­ta­li­tät durch­ge­führt. Der Zusam­men­schluss »Bor­der­vio­lence Moni­to­ring Net­work« hat Ende 2020 sein »Black Book of Push­backs« ver­öf­fent­licht, in dem auf 1.500 Sei­ten gewalt­sa­me Push Backs von 12.000 Betrof­fe­nen doku­men­tiert sind.

Im Novem­ber 2020 ver­öf­fent­lich­te das Bor­der Vio­lence Net­work ein wei­te­res Video, das ver­letz­te Push­back-Opfer auf der einen und mit Peit­schen und Schlag­stö­cken bewaff­ne­te kroa­ti­sche Grenzpolizist*innen auf der ande­ren Sei­te zeigt.

Am 11.01.2021 ver­öf­fent­licht die Men­schen­rechts­kom­mis­sa­rin des Euro­pa­ra­tes, Dun­ja Mija­to­vić, ihre Third Par­ty Inter­ven­ti­on in dem Fall drei­er Syrer, die Opfer von Push Backs durch die kroa­ti­sche Grenz­po­li­zei wur­den. Hier­in macht sie ein­mal mehr deut­lich, wie gut doku­men­tiert die Push Backs und die exzes­si­ve Gewalt­an­wen­dung der kroa­ti­schen Behör­den sind und ver­weist auch auf das kaum vor­han­de­ne bos­ni­sche Asyl- und Aufnahmesystem.

Menschenrechtsverletzungen mit Unterstützung von Brüssel und Berlin 

Die EU finan­ziert den kroa­ti­schen Grenz­schutz mit 6,8 Mil­lio­nen Euro. Davon sind 300.000 Euro für einen Mecha­nis­mus zur Men­schen­rechts­be­ob­ach­tung vor­ge­se­hen, der jedoch nicht ein­ge­rich­tet wur­de. Die EU-Ombuds­frau Emi­ly O’Reilly hat des­halb im Novem­ber 2020 ein Unter­su­chungs­ver­fah­ren eingeleitet.

Von der Bun­des­re­gie­rung erhält die kroa­ti­sche Grenz­po­li­zei tech­ni­sche Aus­rüs­tung. »Wir ste­hen Kroa­ti­en als Part­ner zur Sei­te«, bekräf­tig­te Horst See­ho­fer im Janu­ar 2020 anläss­lich der Über­ga­be von Wär­me­bild­ka­me­ras an die kroa­ti­schen Kolleg*innen. Im Dezem­ber 2020 wur­den 20 Fahr­zeu­ge an Kroa­ti­en über­ge­ben. Innen­mi­nis­ter Davor Boži­no­vić beton­te stolz die mil­lio­nen­schwe­re Unter­stüt­zung durch Deutsch­land in den letz­ten Jah­ren und dass die Deut­schen mit am bes­ten über die Arbeit der kroa­ti­schen Grenz­schüt­zer infor­miert seien.

Evakuierung und legale Einreisewege in die EU

In einem gemein­sa­men Brief for­dern 45 Europaparlamentarier*innen bereits am 02. Janu­ar 2021 lega­le und siche­re Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten in die EU für die Schutz­su­chen­de. Ange­sichts der anhal­ten­dend lebens­ge­fähr­li­chen Situa­ti­on, in der sich Schutz­su­chen­de im bos­ni­schen Win­ter befin­den, tut eine Eva­ku­ie­rung in die EU wei­ter­hin Not.

In Deutsch­land haben sich in den letz­ten Jah­ren mehr als 200 Kom­mu­nen zum „Siche­ren Hafen“ erklärt und Bun­des­län­der ihre Auf­nah­me­be­reit­schaft unter­stri­chen. Anstatt die­se Signa­le zu igno­rie­ren und zu der huma­ni­tä­ren Kri­se zu schwei­gen, müs­sen sich Horst See­ho­fer und Ange­la Mer­kel dafür ein­set­zen, dass die Schutz­su­chen­den aus Bos­ni­en schnellst­mög­lich in die EU wei­ter­rei­sen dür­fen und von Deutsch­land und ande­ren auf­nah­me­be­rei­ten Mit­glied­staa­ten auf­ge­nom­men werden.

(dm)