Deutschland hat die Istanbul-Konvention nur mangelhaft umgesetzt

Geflüchtete Frauen und Mädchen sind unzureichend gegen Gewalt geschützt

Seit Februar 2018 ist die Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt- kurz: Istanbul Konvention (IK) – in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes gültig. Damit hat sich Deutschland verpflichtet, alle Formen von Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen. Dafür müssen umfassende politische und sonstige Maßnahmen ergriffen werden.

Die Konvention ist für alle Frauen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus gültig und muss diskriminierungsfrei umgesetzt werden. Aufgrund einer hohen Gewaltbetroffenheit bei gleichzeitig eingeschränktem und erschwertem Zugang zum Unterstützungs- und Hilfesystem werden geflüchtete Frauen als besonders schutzbedürftige Gruppe benannt. Die Istanbul Konvention bezieht sich in den Art. 59 – 61 zudem explizit auf den Bereich Migration und Asyl. Eine Expert:innengruppe des Europarats (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence – GREVIO) überprüft, inwieweit die unterzeichnenden Staaten die Konvention umgesetzt haben. Im Jahr 2021 wird Deutschland überprüft und hat hierzu bereits im Herbst 2020 in einem Staatenbericht aufgezeigt, welche Maßnahmen getroffen wurden. Auch die Zivilgesellschaft und NGOs sind aufgerufen aus ihrer Sicht darzustellen, wie es um den Schutz von Frauen vor Gewalt beschaffen ist. Gemeinsam mit Landesflüchtlingsräten in Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, PRO ASYL und dem Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen haben wir diese Möglichkeit ergriffen und einen Schattenbericht verfasst mit dem Titel „Zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflüchtete Frauen und Mädchen in Deutschland“

Der Schattenbericht verdeutlicht, dass asyl- und aufenthaltsrechtliche Vorgaben sowie die gezielte Isolations- und Abschottungspolitik nicht nur eine gesellschaftliche Teilhabe verhindern, sondern auch einen wirksamen Gewaltschutz für Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte unmöglich machen.

Im Folgenden fassen wir die zentralen Kritikpunkte des Schattenberichts sowie die daran anknüpfenden Empfehlungen zusammen.

Die Unterbringung in Sammellagern verletzt die Verpflichtung zum Gewaltschutz

ANKER-Zentren und funktionsgleiche Einrichtungen sowie (abgelegene) Gemeinschaftsunterkünfte sind bereits in ihrer Struktur konflikt-und gewaltfördernd (vgl. Positionspapier). Dementsprechend stehen sie in scharfem Widerspruch zu den Vorgaben der Istanbul- Konvention. Deshalb empfehlen wir im Schattenbericht, die Aufenthaltsdauer in ANKER- und funktionsgleichen Erstaufnahmeeinrichtungen auf vier Wochen zu beschränken und ein selbstbestimmtes Wohnen zu fördern und zu ermöglichen.

Struktur und Ablauf von Asylverfahren sind nicht geschlechts- und traumasensibel gestaltet

Um geschlechtsspezifische Fluchtgründe geltend zu machen, müssen viele Hürden überwunden werden: Unter anderem mangelt es an einer unabhängigen und individuellen Vorbereitung für das Asylverfahren; Gewaltbetroffenheit wird nicht frühzeitig erkannt, um entsprechende Unterstützungsmaßnahmen treffen zu können. Die Anerkennungspraxis zeigt zudem, dass geschlechtsspezifische Fluchtgründe viel zu selten eine Flüchtlingseigenschaft (§3 Abs.1 AslyG) oder einen anderen Schutzstatus zur Folge haben. Im Schattenbericht empfehlen wir deshalb eine Anerkennungspraxis, die geschlechtsspezifische Fluchtgründe tatsächlich beachtet, sowie Frauen darin unterstützt und befähigt, entsprechende Fluchtgründe vorbringen zu können.

Der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung ist eingeschränkt und diskriminierend

Die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) umfassen nur eine Grund- und Notfallversorgung, aber nicht die medizinische und gesundheitliche Versorgung für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt, wie in der Istanbul- Konvention gefordert. Wir empfehlen in dem Schattenbericht daher dringlich eine gesetzliche Krankenversicherung und damit Zugang zu allen Gesundheitsleistungen; außerdem einen rechtsverbindlichen Anspruch auf eine professionelle Sprachmittlung. Die medizinische und psychologische Ausbildung muss zudem spezifische Aspekte bei der Versorgung von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte enthalten.

Zugangsbarrieren auch für Beratung und Unterstützung

Ordnungspolitische Maßnahmen und weitere Zugangsbarrieren hindern Frauen mit Flucht- und Migrationsgeschichte häufig daran, Einrichtungen zum Gewaltschutz als auch psychosoziale Regeldienste in Anspruch nehmen zu können. Der Ausbau und die stabile Finanzierung von speziellen Einrichtungen zum Gewaltschutz wie auch der psychosozialen Versorgung sind wichtige Forderungen im Schattenbericht. Die Residenzpflicht ist aufzuheben und die freie Wahl des Wohnortes mit geeigneter Infrastruktur sicherzustellen, um entsprechende Angebote wahrnehmen zu können. Eine finanzielle Unabhängigkeit und gesellschaftliche Teilhabe muss durch die Förderung und Unterstützung beim Zugang zu Arbeit und Ausbildung geschaffen werden; ausreichende Deutschkursangebote und Kinderbetreuung sind eine Voraussetzung hierfür.

Frauen auf der Flucht und an Europas Grenzen

Die Istanbul-Konvention will ein Europa, das frei von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist. Gewaltschutz ist daher nicht nur in Deutschland umzusetzen, sondern auch grenzübergreifend zu verstehen. Es bedarf somit einer grundsätzlichen Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik. Im Schattenbericht wird daher benannt, dass sich die Bundesregierung gegen die Isolation und Abschottung an den europäischen Grenzen und für einen Zugang zu einem fairen Asylverfahren und einer menschenwürdigen Aufnahmepolitik einsetzen muss.

Hier geht zum ganzen Schattenbericht der Flüchtlingsräte, Pro Asyl und der Universität Göttingen auf Deutsch

Und Englisch

Sowie zur Pressemitteilung

Eine Zusammenfassung des Schattenberichtes bei Pro Asyl gibt es hier

Mehr zum Thema Gewaltschutz für geflüchtete Frauen und Mädchen und der Istanbul-Konvention beim Flüchtlingsrat Niedersachsen

und in unserem Positionspapier.

Hier geht’s zum Schattenbericht von DaMigra, auch zu den deutschen Vorbehalten und dem Schattenbericht des Bundesweiten Bündnis Istanbul-Konvention.