Positionspapier: Situation geflüchteter Kinder in Geflüchtetenunterkünften

Hintergrund

Kinder sind durch die Flucht besonders belastet – durch Kriegserlebnisse, Verlust von Heimat und Bezugspersonen, als Zeug:innen oder Betroffene von Gewalt, durch Angst, Ungewissheit und traumatisierende Erlebnisse. Sie spüren den Stress, die Verunsicherung und die Angst ihrer Eltern. Hinzu kommen Erlebnisse von Ausgrenzung und Fremdheit. Auch in Deutschland angekommen genießen geflüchtete Kinder nicht den gleichen Schutz wie andere Kinder. In der Ausübung ihrer Rechte sind sie vielfach benachteiligt – trotz ihrer besonders hohen Belastung. 37% der begleiteten Kinder weisen posttraumatische Belastungsstörungen auf und 30% Depressionen. Dabei ist von einer hohen Dunkelziffer an weiteren psychischen Belastungen auszugehen, da die Identifizierung von besonders Schutzbedürftigen mangelhaft ist. Seit 1992 ist die UN Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in Deutschland rechtskräftig. Die darin verbrieften Rechte gelten für alle Kinder, auch für geflüchtete! Das gegenwärtige Aufnahme- und Unterbringungssystem verstößt allerdings in eklatantem Maße gegen die UN-KRK: das Diskriminierungsverbot (Art. 2, 22 UN-KRK), die Vorrangigkeit des Kindeswohls bei allen Maßnahmen (Art. 3 Abs. 1 UN-KRK), das Recht auf größtmögliche individuelle Entwicklung (Art. 6 UN-KRK), das Recht auf Partizipation (Art. 12 UN-KRK), das Recht auf Privatsphäre (Art. 16 UN-KRK), das Recht auf ein gewaltfreies Leben (Art. 19 UN-KRK), das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit (Art. 24 UN-KRK), das Recht auf einen angemessen Lebensstandard (Art. 27 UN-KRK), das Recht auf Zugang zu Bildung (Art. 28 UN-KRK) und das Recht auf Zugang zu Spiel und Freizeit (Art. 31 UN-KRK). Das Kindeswohl und die verbrieften Kinderrechte müssen entgegen aktueller Praxis Vorrang haben vor migrationspolitischen Erwägungen, die auf Abschreckung und Abschottung zielen.

ANKER-Einrichtungen

Um es gleich vorwegzunehmen: ANKER-Einrichtungen sind für Kinder nicht geeignet. Die Kinder wachsen in den ANKER-Zentren in einem von Gewalt – auch sexualisierter Gewalt – und Belästigungen, Macht und Ohnmacht, Diskriminierung und Rassismus, Anspannung und Bedrohung, von Sucht, Alkoholmissbrauch und Drogen geprägten Klima auf. Resignation und Perspektivlosigkeit, Spannungen und Konflikte kennzeichnen ihren Alltag. Die Kinder haben in den Massenunterkünften durch die Unterbringung in Mehrbettzimmern keine Privatsphäre, keine Rückzugsmöglichkeiten und nur rudimentär Freizeitgestaltungs- und Spielmöglichkeiten. Durch das unmittelbare Miterleben von nächtlichen Abschiebungen mit hohem Polizeiaufgebot und als Zeug:innen von Zimmerdurchsuchungen durch die Polizei werden die Kinder extrem belastet. In der Studie „Kein Ort für Kinder. Zur Lebenssituation von minderjährigen Geflüchteten in Aufnahmeeinrichtungen“ kommt terre des hommes zu der Auffassung, dass die Verstöße gegen das Grundgesetz und gegen die Vorgaben der UN-KRK strukturell in dem Aufnahme- und Unterbringungssystem angelegt seien. Dies gilt auch für das Recht der Kinder auf ein gewaltfreies Leben. Denn die Massenunterkünfte sind per se gewaltfördernd. Die Kinder wachsen in Armut und einem Klima der Gewalt auf – und sind durch das Asylbewerberleistungsgesetz gegenüber SGB II-Empfänger:innen benachteiligt. Dies wird etwa im Sachleistungsprinzip, Vollverpflegung statt selbstständiger Kochmöglichkeiten, unzureichender Gesundheitsversorgung und Residenzpflicht deutlich. Besonders fatal ist die alters- und jahrgangsübergreifende Beschulung der Kinder in Lagerschulen innerhalb der ANKER-Zentren. Die Kinder verharren in den ANKER-Zentren und kommen nicht mit Gleichaltrigen außerhalb der ANKER-Zentren zusammen. Trotz eines bestehenden Rechtsanspruchs auf Betreuung und den Besuch von Kindertagesstätten wird dies in der Praxis kaum umgesetzt.

Eltern können in ANKER-Zentren aufgrund der zahlreichen Vorgaben und Restriktionen und des damit einhergehenden Autonomieverlustes ihren Erziehungsauftrag nur bedingt erfüllen. In einer Landtagsanhörung zu ANKER-Einrichtungen im August 2019 stellte der Kinderarzt Dr. Daniel Drexler gravierende Entwicklungsverzögerungen bei Kleinkindern und Kindeswohlgefährdung durch die Unterbringung in den Masseneinrichtungen mit all den bestehenden Einschränkungen fest. Psychische Belastungen und Erkrankungen werden durch die Unterbringung im ANKER-Zentrum verstärkt, wer noch nicht krank ist, wird hier (psychisch) krank, so sein Fazit. Dies gilt gerade für Kinder!

Die Kinder- und Jugendhilfe blendet die Gruppe der geflüchteten Kinder in ANKER-Zentren bislang dennoch aus und wird nur bei ernsthafter Kindeswohlgefährdung tätig – wenn überhaupt. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass die Beeinträchtigungen des Kindeswohls nicht durch die Eltern geschehen, sondern in den Strukturen des Aufnahme- und Unterbringungssystems liegen. So stellt sich im Fall der ANKER-Zentren nicht die Frage „Wie schützt der Staat die Kinder vor den Eltern?“, sondern „Wie schützt der Staat Kinder vor dem Staat?“

Das umfassende Positionspapier des Bayerischen Flüchtlingsrats zum Thema Kinder in Geflüchtetenunterkünften finden Sie hier: